Hausgemacht oder doch Convenience? Eine Entscheidungshilfe für den Weg zur Softwarelösung, die passt.

Hausgemacht oder doch Convenience? Eine Entscheidungshilfe für den Weg zur Softwarelösung, die passt.

von Andreas Keßler

#passende Softwarelösung #Individual-Software #Standard-Software

Jeder liebt hausgemachtes Essen und dennoch erzielt Convenience-Food Jahr für Jahr neue Verkaufsrekorde. Wie passt das zusammen?
Die Antwort ist einfach: Menschen mögen es gerne selbstgemacht, scheuen im Alltag aber den Aufwand fürs Kochen, während das Fertiggericht mit einer bequemen Zubereitung lockt.
Auf der Suche nach einer passenden Softwarelösung scheinen Menschen ähnlich zu ticken: Viele interessieren sich für professionelle „hausgemachte“ Lösungen, greifen am Ende aber doch zur vermeintlich praktischen und bekannten Standardlösung.
Wird diese Entscheidung durchdacht gefällt, muss das kein Fehler sein.
Allerdings erlebe ich nicht selten, dass vielen Entscheidern – anders als beim Kochen – ein Grundverständnis für die Materie fehlt. Mit einer Entscheidungshilfe möchte ich deshalb eine Orientierung bieten, um in der Spannung zwischen Individualentwicklung und Standardprodukt die Softwarelösung zu finden, die den eigenen Anforderungen am besten entspricht.

Wie individuell ist Individual, wie standardisiert ist Standard? – Einige „philosophische“ Vorbemerkungen aus der Welt des Kochens

Man könnte meinen, als Softwareentwickler würde ich immer zu individueller Software raten. Schließlich bin ich von meinem Handwerk überzeugt und verdiene damit meine Brötchen. So einfach verhalten sich die Dinge allerdings nicht, wie drei Vergleiche aus der Welt des Kochens zeigen:

  • Sind Käsespätzle mit Spätzle und Reibekäse aus dem Kühlregal ein selbstgemachtes Gericht? – Als Softwareentwickler – und vor allem als Software Architect – mag ich guten Code. Dennoch ist es nicht mein Anspruch, so viel Code wie möglich selbst zu schreiben. Vielmehr ist es mein Ziel, meiner Kundschaft ein passgenaues, finanzierbares Softwareprodukt zu servieren. Der Rückgriff auf vorgefertigte „Zutaten“ ist dabei nicht verpönt, sondern oft sinnvoll und wirtschaftlich.
  • Was ist gesünder: Selbstgemachte Schinkennudeln oder das Wokgemüse aus der Tiefkühltruhe? – Selbstgemacht ist nicht immer auch besser. Ideologische Grabenkämpfe haben in der Softwareentwicklung daher keinen Platz. Wie das Wokgericht aus der Tiefkühltruhe, können auch „Fertigprodukte“ in der Softwareentwicklung eine schlanke, gesunde Lösung sein, während Eigenentwicklung den Prozess nur aufblähen.
  • Warum schmecken Dosenravioli auf einem Festival großartig, aber nicht an Weihnachten oder Ostern? – In jedem Unternehmen gibt es Bereiche, in denen das Beste gerade gut genug ist. Eine Schreinerei wird bei der Qualität ihrer CAD-Software weniger Kompromisse in Kauf nehmen als bei der App zur Verwaltung der Barkasse. Es ist wichtig, diese Eigenheiten ernst zu nehmen. Standard-Software, die in einem Unternehmen gut genug ist, kann bei den Anforderungen eines anderen Unternehmens sang und klanglos untergehen.

Was ist also wesentlich, wenn Unternehmen vor der Entscheidung zwischen einer (überwiegend) individuellen Softwarelösung und einer (überwiegend) standardisierten Software stehen. Ich sage: die unideologische Ergebnisoffenheit. Genauso möchte ich meine Entscheidungshilfe verstanden wissen.

5 Entscheidungskriterien für die Suche nach einer passenden Softwarelösung

Die Entscheidung in welchen Anteilen eine Software als Individual- oder Standardlösung entwickelt wird, sollte weder rein aus dem Bauch heraus erfolgen noch ideologisch aufgeladen sein. Fünf Kriterien sollen deshalb eine Hilfestellung bieten, um möglichst viele Aspekte im Entscheidungsprozess zu berücksichtigen.

1. Die Anforderungen

Die Anforderungen, denen eine Software gerecht werden muss, werden durch die Anwendungsreichweite, die betrieblichen Prozesse und vor allem durch den praktischen Bedarf der NutzerInnen bestimmt.

PRO
Individual-Software
  • Wechselseitige Prozessoptimierung: Prozesse können 1:1 ohne Kompromisse abgebildet werden. Zugleich kann der Entwicklungsprozess ein Anlass sein, um Abläufe neu zu ordnen. Software und Prozesse können so optimal aufeinander abgestimmt werden.
  • Innovationsfreundlichkeit: Für viele Neuentwicklungen kommt nur eine individuelle Software in Frage, da nur sie die neuen Prozesse adäquat abbilden kann.
Standard-Software
  • Erprobte Lösungen: Für standardisierte Prozesse in den Zentralabteilungen (z. B. Buchhaltung, HR) sind viele bewährte Lösungen verfügbar.
  • Fehlerreduktion: Durch den Einsatz in vielen Unternehmen kann Standard-Software konsequent weiterentwickelt werden. Dadurch steigt häufig die Qualität des Produkts.
  • Finanzierungssicherheit: Kosten für die Einführung einer Standard-Software können einfach kalkuliert werden.
  • Klarere Prozesse: Standardisierte Software bietet in Zentralabteilungen die Möglichkeit, Abläufe entsprechend aktueller best practices zu optimieren.
CONTRA
Individual-Software
  • Hoher Beteiligungsaufwand: Um alle Prozesse adäquat abzubilden, müssen alle „betroffenen“ Mitarbeitenden und Stakeholder in die Entwicklung eingebunden werden. Das bietet enorme Chancen, bedeutet aber auch einen großen Zeit- und Kostenaufwand. Software und Prozesse können so optimal aufeinander abgestimmt werden.
Standard-Software
  • Geringe Anpassungsfähigkeit: Wichtige unternehmensspezifische Prozesse können nur mit hohem Mehraufwand abgebildet werden. Oft empfiehlt es sich allerdings, auf entsprechende Anpassungen ganz zu verzichten.

Achtung „Umweg-Prozesse“: Eine gute Software sollte in der Lage sein, 90 bis 95 Prozent der Prozesse im Unternehmen abzubilden. Ist dies nicht der Fall, etablieren sich kleine Auswege, mit denen Funktionsmängel in der Software kreativ umgangen werden. Sie benötigen zwar oft nur wenige Klicks, verursachen aber dennoch Mehrarbeit und Fehler. Existieren viele „Umweg-Prozesse“, ist das ein guter Hinweis auf eine unpassende Softwarelösung oder unklare Unternehmensprozesse.

2. Zukunfts- und Entwicklungspotenzial

Die Anpassungsfähigkeit an technologischen Veränderungen ist in der Softwareentwicklung entscheidend, damit Softwarelösungen nicht nur kurzfristig funktionieren, sondern langfristiges Verbesserungspotenzial bieten.

PRO
Individual-Software
  • (Nahezu) unbegrenzte Anpassungsfähigkeit: Mit einer durchdachten Grundarchitektur kann die Software beinahe grenzenlos angepasst und weiterentwickelt werden.
Standard-Software
  • Reaktionsdruck: Große Softwareanbieter müssen schnell auf neue Gesetze, aber auch Sicherheitslücken und Bedrohungen reagieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
  • Geprüfte Updates: Funktionen werden für einen großen Benutzerkreis ausgerollt und daher in der Regel vor dem Launch umfassend getestet.
CONTRA
Individual-Software
  • Gefahr technischer Schulden: Ohne ausreichend Weitblick bei Planung und Implementierung kann die Integration neuer Features aufwendig werden.
  • Unterschätzte Wartungsroutinen: Gelegentliche Updates garantieren keine nachhaltig stabile Software.
    -> Kontinuierliche Test- und Wartungsroutinen müssen von Anfang an mitbedacht werden.
Standard-Software
  • Eingeschränktes „Mitspracherecht“: Wichtige neue Funktionen können nur in Rücksprache mit dem Anbieter und oft erst spät (oder überhaupt nicht) umgesetzt werden.

3. Unabhängigkeit

Eine gute Software ist „systemrelevant“. Droht Unternehmen ein Vendor-Lock-in durch eine zu große Abhängigkeit von einem Anbieter, kann dies den Unternehmenserfolg gefährden.

PRO
Individual-Software
  • Maximale Gestaltungsfreiheit: Der implementierte Programmcode gehört (in den meisten Fällen) dem Unternehmen und kann daher nach eigenem Ermessen genutzt, verändert oder abgelöst werden.
Standard-Software
  • Auswahl durch Konkurrenz: Für Standardprozesse sind meist mehrere Lösungen verfügbar. Bei anhaltender Unzufriedenheit kann daher auf eine Marktalternative zurückgegriffen werden.
CONTRA
Individual-Software
  • „Kooperative Abhängigkeit“: Der größte Gestaltungsfreiraum nützt nichts, wenn die Zusammenarbeit zwischen Entwickler und Auftraggeber nicht funktioniert.
    -> Ein vertrauensvolles Miteinander ist daher Grundvoraussetzung für eine langfristig stabile Softwarelösung.
Standard-Software
  • Hohe Abhängigkeit: Der Anbieter entscheidet (weitestgehend) allein, über die Weiterentwicklung der Software. Features werden entsprechend der Marktanforderungen umgesetzt. Konkrete Kundenbedürfnisse sind diesen nachgeordnet.

4. Kosten

Viele Unternehmen haben bei der Implementierung einer neuen Software die Bereitstellungskosten im Blick, unterschätzen allerdings den Aufwand für monatliche oder jährliche Lizenzen. Für die Kostenrechnung ist daher eine Fünf- oder Zehn-Jahres-Kalkulation empfehlenswert.

PRO
Individual-Software
  • Möglichkeit von „Testballons“: Durch Machbarkeitsanalysen kann kosteneffizient und ohne langfristige Abhängigkeiten geprüft werden, ob die Software tatsächlich den erhofften Nutzen bringt.
  • Hohe Kostensicherheit: Wartungs- und Pflegekosten können entsprechend der Möglichkeiten des Unternehmens mit dem Dienstleister vereinbart werden. Dadurch steigt die Kostensicherheit.
Standard-Software
  • Gute Planbarkeit: Da die Leistungspakete der Anbieter in der Regel von Anfang bekannt sind, können die Kosten für die Lizenzierung gut kalkuliert werden.
CONTRA
Individual-Software
  • Komplexere Kostenkalkulation: Im Verlauf des Entwicklungsprozesses wächst häufig der Funktionsumfang der Software. Trotz der guten Preiskalkulation der Dienstleister steigen dadurch die Kosten.
    -> Kunden müssen sich deshalb entweder auf den anfänglichen Leistungsumfang fokussieren oder Kostensteigerungen bewusst in Kauf nehmen.
Standard-Software
  • Teure Lizenzmodelle: Der Leistungsumfang ist selten passgenau. Kunden zahlen daher für Features, die sich eigentlich nicht benötigen.
  • Modelle mit Umsatzprovision: Einige Preismodelle (z. B. für Onlineshops) sehen eine Umsatzbeteiligung vor, die den Gewinn reduziert.

5. Sicherheit & Compliance

Man könnte vermuten, dass die etablierten Standardsysteme großer Anbieter sicherer sind als kleinere Eigenentwicklungen. Dieser Sichtweise greift allerdings zu kurz, denn oft ist genau das Gegenteil der Fall.

PRO
Individual-Software
  • Transparenz der Softwarearchitektur: Da das Unternehmen genaue Einblicke in die Entstehung der Software erhält, lassen sich sicherheitskritische Prozesse oft gut antizipieren.
    -> Für ihr Absicherung können und sollten von Anfang an Verantwortlichkeiten und Budgets festgelegt werden.
  • Gute Abbildbarkeit, interner Regularien: Unternehmensinterne Anforderungen und Richtlinien lassen sich bequem integrieren.
Standard-Software
  • Hohe Sicherheitsstandard möglich: Investiert der Anbieter von Anfang an in die Produktsicherheit, ist ein sehr sicherer Betrieb der Software möglich.
    -> Eine gründliche Prüfung der Sicherheitsstandards ist immer zu empfehlen.
CONTRA
Individual-Software
  • Hohes Sicherheitsbewusstsein erforderlich: Unternehmen und Entwickler setzen ihren Fokus gerne auf innovative neue Features. Allerdings kann die Software nur sicher funktionieren, wenn auch nicht-funktionale Anforderungen für die Systemsicherheit von Anfang an mitbedacht werden.
  • Hohe Eigenverantwortlichkeit: Bei Eigenentwicklungen müssen mögliche Sicherheitsbedrohungen für alle Prozessschritte kontinuierlich im Blick behalten werden, um passende Gegenmaßnahmen einzuleiten. Das erfordert eine hohe Wachsamkeit im Unternehmen.
Standard-Software
  • Beliebtes Angriffsziel: Anwendungen, die von vielen Menschen genutzt werden, sind auch bei Angreifern sehr beliebt, da mit einem intelligenten Angriff gleich mehrere Systeme attackiert werden können.
  • Bekannte Sicherheitsschwächen: Viele erfolgreiche Cyberangriffe lassen sich auf Sicherheitslücken und Konfigurationsfehler bekannter Softwareanwendungen zurückführen.
  • Eingeschränkte Transparenz: Die schillernden Zertifizierungen vieler Anbieter klingen gut, haben aber wenig Relevanz für die tatsächliche Systemsicherheit. Eine unabhängige Prüfung der Softwarequalität ist allerdings nur möglich, wenn der Anbieter einverstanden ist.
  • Gefahr der unklaren Zuständigkeiten: Ist zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer nicht ausreichend geklärt, wer welche Sicherheitsanforderungen erfüllt, können riskante Sicherheitslücken entstehen.

Fazit: Convenience oder Eigenkreation? – Das Rezept muss zum Anlass passen!

Ich mag gute Software und gutes Essen. Fragt man mich nach einer abschließenden Empfehlung, möchte ich daher noch einen Vergleich ziehen:

Es ist Samstag und damit etwas mehr Zeit als unter der Woche, um aufwändiger zu kochen. Die Entscheidung fällt auf Kassler mit Sauerkraut und Kartoffelbrei. Fragt man Menschen nach der besten Zubereitung des Kochklassikers, erhält man verschiedenste Antworten. Die einen greifen auf fertiges Kartoffelpüree zurück, während für andere nur selbstgemachter Kartoffelbrei infrage kommt. Wieder andere bestehen auf einer hausgemachten Rahmsoße, während eine nächste Gruppe auf die Fertigsoße ihrer Lieblingsmarke schwört. Lediglich bei der Fleischauswahl und beim Sauerkraut würden die meisten aus Zeitgründen auf Produkte von Metzger und Supermarkt zurückgreifen – zumal Räuchern, Pökeln und Einlegen zeit- und planungsintensive Prozesse sind.

Software ist komplexer als Kassler mit Sauerkraut und Kartoffelbrei - dennoch bestehen Parallelen. Wie der Küchenklassiker, so besteht auch Software aus mehreren Komponenten. Und auch hier gibt es wie beim Fleisch und Sauerkraut sinnvolle „Effizienzgründe“, um auf bewährte Standardlösungen zurückzugreifen. Für andere Komponenten sind – ähnlich wie beim Kartoffelbrei – die Qualitätsansprüche besonders hoch, der Produktionsaufwand aber vergleichsweise gering, so dass einer Eigenproduktion nichts im Weg steht. Bei manch weiteren „Zutaten“ ist die Produktauswahl – wie bei der Rahmsoße – reine Geschmackssache.

Die Frage zwischen Standard- und Individual-Software ist für mich also keine Frage, die ideologisch schnell mit Ja oder Nein zu beantworten ist. Vielmehr ist der Blick auf Bedürfnisse und Ressourcen vor Ort sowie auf die Prozesse, die durch die Software abzubilden sind, der erste und entscheidende Schritt. Denn sie bilden den Rahmen der Notwendigkeiten, die zusammen mit dem persönlichen Geschmack des Kunden die Rezeptur für eine passende Softwarelösung vorgeben. Diese wiederum besteht oft aus der cleveren Kombination von Standardanwendungen und individuellen Anpassungen, durch die Prozessbrüche vermieden und durchdachte Lösungen entwickelt werden.
Und zu guter Letzt meine ich: Erlaubt ist, was schmeckt und satt macht.

Über den Autor

Andreas Keßler

Der studierte Informatiker (Jg. 1985) ist Mitinhaber und Innovationsarchitekt der IA. Sein Schwerpunkt, den er durch die Realisierung von Systemarchitekturen für Unternehmen unterschiedlicher Größe und Branchen, wie Bosch, s.Oliver, oder tegut..., etablieren konnte, liegt vor allem in der Konzeption und Entwicklung von tragfähigen (Enterprise)-IT Lösungen. Bezeichnend für ihn ist die Eigenschaft, die richtigen Fragen zu stellen, die Fähigkeit, genau und bedarfsorientiert zu analysieren, und eine große Vorliebe für pragmatische und effektive Lösungen. Andreas Herz schlägt für schnelle Anwendungen mit intuitiver Oberfläche und maximaler Performance. Abseits vom Mac fühlt sich der am Mittelpunkt Europas lebende dreifache Vater am Grill besonders wohl.

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