2022 05 12 Innovation

„Innovation“: Schluss, aus, Modefloskel? 5 Übersetzungen zur Wiederbelebung eines bedrohten Begriffs von Andreas Keßler

Es gibt Lieder, die sind einfach gut – bis sie zu einem Massenhit werden, ständig und überall gespielt werden und so nach und nach ihre Faszination verlieren.
Es gibt aber auch Begriffe, die dieses Schicksal teilen. So scheint auch die Suche nach Innovationen zu einem unternehmerischen Breitensport geworden zu sein, mit dem Ergebnis, dass der Begriff der Innovation seine Strahlkraft fast vollständig verloren hat.

Oder anders ausgedrückt: Wenn heute fast jede noch so kleine Veränderung zur Innovation aufgeblasen wird, woran lassen sich dann echte Innovationen überhaupt noch erkennen?

Eine umfassende neue Begriffsklärung kann auch ich nicht bieten. Schließlich lässt sich eine „Innovation“ je nach Perspektive unterschiedlich beschreiben. Eine Unternehmensberatung, die sich auf die Transformation von unternehmensweiten Prozessen spezialisiert hat, würde eine Prozessinnovation also anders definieren als der Scrum Master, der sich um agile und innovative Prozesse in seinen Projekten bemüht.

Ebenso habe auch ich als Softwarearchitekt eine eigene Auffassung davon, wann ich von einem innovativen Produkt (und den dazugehörigen innovativen Prozessen) spreche und wann besser nicht. Aus meinen Erfahrungen möchte ich daher – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – fünf Übersetzungen vorstellen, die helfen sollen, einen wichtigen Begriff neu zu schärfen.

 

1. Übersetzung: Innovation = Verbesserung

Eine Innovation als Verbesserung zu beschreiben, mag simpel klingen.
Doch tatsächlich ist dieses Merkmal für mich der wichtigste Prüfstein einer Innovation:
Ein Produkt ist genau dann innovativ, wenn es ein Problem löst, das allen Beteiligten auf den Nägeln brennt (bzw. bald brennen wird). Oder es verbessert Abläufe erheblich, indem es diese deutlich schöner oder angenehmer gestaltet.
Ein Beispiel: Sicher würden manche Unternehmen nicht zögern, ihre aufwendig entwickelte Kantinen-App, die es allen Mitarbeitenden ermöglicht, die Speisekarte der Woche auf dem Handy einzusehen, als Innovation darzustellen. Bedenkt man jedoch, dass ein Speiseplan am Eingang der Kantine oder ein als PDF verschickter Wochenplan den gleichen Zweck erfüllt, dann würde ich die App nicht als Innovation bezeichnen. Sie macht die Abläufe zwar zeitgemäßer, aber eben nicht unbedingt besser.

 

2. Übersetzung: Innovation = Bedarfsorientierter Fortschritt

Eine wichtige Voraussetzung für innovative Produkte besteht für mich darin, dass sich die Entscheidungsträger und Verantwortlichen des Entwicklungsprozesses bereits zu dessen Beginn ausgiebig mit den Bedürfnissen der Menschen beschäftigen, deren Arbeitsabläufe durch das Produkt verbessert werden sollen.

Denn nur so entsteht auch ein Produkt, das nicht nur eine Veränderung, sondern eine passgenaue und bedarfsorientierte Veränderung von Prozessen und somit einen wesentlichen und werthaltigen Fortschritt mit sich bringt.

 

3. Übersetzung: Innovation = Nachhaltige Erneuerung

Jede Innovation ist immer eine Verbesserung, aber nicht jede Verbesserung ist auch eine Innovation. Daher ist für mich vor allem die Nachhaltigkeit der erreichten Verbesserung ein wichtiger Gradmesser, um aus einem guten Produkt ein innovatives Produkt werden zu lassen. Denn ohne Zweifel sind auch kurzfristige oder marginale Verbesserungen angenehm, dem Kriterium einer andauernden und im positiven Sinn folgenreichen Erneuerung von Prozessen entsprechen sie aber nicht.

 

4. Übersetzung: Innovation = Vereinfachung

Sicherlich mag für Softwareentwicklerinnen und -entwickler die Versuchung groß sein, das gesamte Arsenal des programmiererischen Könnens unter Beweis zu stellen und das neue Produkt mit Extras und „Schnick-Schnack“ auszustatten. Eine einfache, schlanke und funktionale Lösung braucht das jedoch nicht. Denn nicht das verfügbare „Code-Repertoire“ entscheidet über die Gestaltung des Produktes, sondern die Bedürfnisse der Menschen, die das Produkt benutzen. So können mitunter einfache oder sogar „langweilige“ Lösungen der beste Weg sein, Hauptsache, sie vereinfachen die Arbeitsabläufe der Betroffenen.

 

„Langweilige Technologie ist ein Geschäftsvorteil“

In seinem Aufsatz „Boring Technology Is An Business Advantage“ beschreibt James J. Griffin ältere Technologien als eine unterschätzte Chance in Unternehmen. Er bezieht sich dabei auf die Theorie der Innovationstoken von Dan Mc Kinley, die besagt, dass neue Technologien Unternehmen nicht nur Vorteile bringen, sondern aufgrund des Aufwandes bei deren Implementierung auch viel Kraft kosten. Daher sieht Griffin in der Verwendung von bestehenden Technologien drei große Vorteile:

1. Vorteil – leichteres Recruiting:
Bekannte und bewährte Programmiersprachen und Softwares werden von mehr Entwicklerinnen und Entwicklern beherrscht als neue und seltenere Softwarestacks. Daher gestaltet sich der Recruiting-Prozess bei der Verwendung gängiger Programmiersprachen meist einfacher.

2. Vorteil – leichterer Bau:
Häufig entstehen in Unternehmen gleich mehrere Bibliotheken, die alle auf ein und derselben Programmiersprache basieren. Ein kompletter Wechsel in eine neue Technologie bringt daher einen immensen Aufwand mit sich. Die parallele Verwendung alter und neuer Technologien torpediert zugleich die Kompatibilität der Bibliotheken untereinander. Beide Probleme lassen sich beim Rückgriff auf scheinbar langweilige Technologien vermeiden.

3. Vorteil – leichtere Wartung:
Während man bei neuen Technologien nahezu jedes auftretende Problem selbst lösen muss, sind für die Probleme bewährter Technologien fast immer bereits Lösungen bekannt. Die Wartung der Software gestaltet sich so deutlich einfacher.

Griffin zeigt so sehr anschaulich, dass neue Technologien keinen Wert an sich darstellen. Im Gegenteil: Sie können Prozesse sogar unnötig ausbremsen. Die passende Technologie sollte daher immer entsprechend dem tatsächlichen Bedarf im Entwicklungsprojekt ausgewählt werden.

Innovation

5. Übersetzung: Innovation = Eine zu Ende gedachte Umgestaltung

Aus Schnellschüssen entstehen nur selten echte Innovationen. So mag es zwar sicher Situationen geben, in denen eine Lösung nahezu offenkundig auf der Hand liegt. Dennoch lohnt es sich, in solchen Fällen weiterzudenken und verschiedene Szenarien und Aspekte zu berücksichtigen:

  • Sind alle Prozesse in der Customer Journey Map des Produktes mitbedacht?
  • Passt das neue Produkt in das Ensemble der bestehenden Tools und Prozesse im Unternehmen?
  • Sind auch Automatisierungsprozesse und Sicherheitsaspekte mitbedacht?
  • Sind alle Personen, die es zu informieren und zu beteiligen gilt, auch entsprechend in den Prozess eingebunden? 

 

Vielleicht mag es hinderlich wirken, wenn sich ein begeistertes Team zu Beginn eines Entwicklungsprozesses auch solchen Denkaufgaben stellen muss. Sie scheinen aber dennoch unverzichtbar, um nicht nur einen isolierten Schnellschuss, sondern eine durchdachte Umgestaltung und somit einen echten innovativen Fortschritt für alle zu erreichen.

 

Eine Anmerkung: „Zu Ende gedacht“ heißt nicht „perfekt“

Werden alle Eventualitäten bei der Entwicklung mitbedacht, so kann dies tatsächlich dazu führen, dass einzelne Probleme erkannt werden, die nicht ohne größeren Aufwand gelöst werden können, z. B. weil für die Benutzung der neuen Software auch eine Anpassung der Hardware erforderlich wird oder sich das neue Produkt nicht ohne Weiteres mit der bestehenden, aber notwendigen Software eines Teilbereichs im Unternehmen verknüpfen lässt.

Ein Hemmschuh für die Entwicklung innovativer Softwarelösungen bedeutet das für mich allerdings dennoch nicht. Denn ein innovatives Produkt muss nicht automatisch auch ein von Anfang an perfektes Produkt sein. Würde man mit der Implementierung nämlich immer abwarten, bis alle Hindernisse vollständig ausgeräumt sind, so wäre die schnelle Entwicklung innovativer Produkte in den meisten Fällen nicht möglich. Wichtig erscheint mir jedoch, dass solche Hindernisse dennoch gesehen und in den Entwicklungsprozess eingeplant werden, z. B. indem ein Plan aufgestellt wird, wann und wie die entsprechenden Lösungen erreicht werden können. Lücken im Prozess selbst, also das Übersehen von wichtigen Prozessschritten und -abläufen, sind dagegen immer zu vermeiden. Denn ein lückenhaft durchdachter Prozess wird keine nachhaltige Verbesserung bieten.

 

Innovativ oder nicht innovativ, das ist hier NICHT die Frage!

Als „Innovation Agent“ ist mir der Begriff der „Innovation“ natürlich wichtig. Ich fände es daher schade, wenn von ihm bald nichts mehr bleibt als ein Buzzword. Meine fünf Übersetzungen sollen daher präzisieren, was für mich ein innovatives Produkt (bzw. einen innovativen Prozess) ausmacht.

Um Schwarz-Weiß-Malerei geht es mir dabei aber nicht. Denn der Begriff der Innovation ist für mich mehr als ein Ehrentitel. Es geht nicht darum, einem Produkt zwanghaft das Prädikat oder (Werbe-)Label „Innovation“ verleihen zu können.

Vielmehr möchte ich den Begriff der „Innovation“ auch weiterhin als Inspiration verstehen, die dazu anspornt, bei der Softwareentwicklung nicht nur schnelle und schillernde Lösungen zu suchen, sondern Produkte zu gestalten, die die Arbeitsabläufe von Menschen bedarfsgerecht und dauerhaft vereinfachen und verbessern. Denn genau das zeichnet für mich eine echte Innovation aus.

 

Über Andreas

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