Gruppenphasen Tuckman

Mehr Team-Performance? Geduld! Mit Tuckman aus der Silostarre von Sven Schneider

Silos sind eine feine Sache, zumindest in der Landwirtschaft. Sie behüten wertvolle Güter vor schädlichen Außeneinflüssen und garantieren so eine lange Haltbarkeit.
In Unternehmen ist „Silodenken“ allerdings ein ernsthaftes Problem. Wenn jede Abteilung für sich isoliert denkt und arbeitet, fehlt der Gedankenaustausch über „Silogrenzen“ hinweg. Die Entwicklung gemeinsamer Innovationen wird blockiert.
Die Transformation der Silo-Mentalität hin zu einer kollaborativen Arbeitskultur ist deshalb eine wesentliche Voraussetzung für die Etablierung agiler Prozesse.
Doch die Ab- und Auflösung altgedienter Strukturen bringt neue Herausforderungen mit sich. Wenn althergebrachte Strukturen wegfallen, fehlen Halt und Sicherheit. Neue Formen der Zusammenarbeit müssen gesucht und gefestigt werden, damit Vertrauen in die Tragfähigkeit der neugewonnenen Strukturen wachsen kann. Das braucht Zeit und die Akzeptanz vermeintlicher Rückschritte, die dabei oft die größten Entwicklungsschritte ermöglichen.

Teamentwicklung nach Tuckman

Soll der Transformationsprozess von der „silogeprägten“ Arbeitsgruppe hin zum kollaborativen Team gelingen, müssen Führungskräfte den Prozess aktiv gestalten und dafür ausreichend Zeit und Energie investieren. Die 1965 von Bruce Tuckman entwickelten vier Entwicklungsstufen für die Formierung von Teams und Kleingruppen können dazu eine gute Hilfestellung sein.

1. Phase: Forming

In der sog. Formierungsphase zeigt sich das Team hochdynamisch. Gemeinsame Herausforderungen und Ziele werden gesucht, zugleich wird die Zusammenarbeit „angetestet“ und Freiräume und Grenzen ausgelotet. Führungskräfte und Coaches müssen in dieser Phase gleich mehrere Aspekte beachten:

  • Ergänzende Stärken suchen: Führungskräfte und agile Coaches sollten die Stärken und Fähigkeiten der einzelnen Teammitglieder gut im Blick behalten und darauf achten, dass sich Stärken nicht doppeln, sondern ergänzen.
    Denn ein agiles Team ist nur leistungsstark, wenn innerhalb des Teams die Synergien aus den funktionsübergreifenden Stärken der Teammitglieder bestmöglich genutzt werden.
  • Team-Mentalität prägen: Es ist menschlich und verständlich, dass Teammitglieder am Anfang eines Formierungsprozesses nach haltgebenden Strukturen suchen und sich so eher in die konkrete Arbeit vertiefen, als sich um eine neue Teammentalität zu bemühen. Deshalb ist es Aufgabe des/r Prozessverantwortlichen, das Team immer wieder zusammenzuholen und an die gemeinsame Zielsetzung zu erinnern.
  • Retrospektiven etablieren: Essentiell für die Formung des Teams ist die Etablierung von Retrospektiven nach Ideation-Prozessen und Sprints. Sie ermöglichen es, Probleme zu erkennen, Lösungsansätze zu entwickeln und gemeinsame Ziele zu definieren. Das Wir-Gefühl der Gruppe wird gestärkt.

2. Phase: Storming

Die Entwicklung eines Gemeinschaftsgefühls in der ersten Gruppenphase führt häufig dazu, dass sich die Teammitglieder in der zweiten Teamphase stärker aus der Deckung wagen. Vertrauen entsteht, Gedanken werden offener geteilt. Doch gerade die Offenlegung von unterschiedlichen Ideen und Arbeitsstilen kann zu Konflikten im Team führen, die „Sturmphase“ ist in vollem Gang. Der Führungskraft kommt in dieser Phase vor allem eine beruhigende und ordnende Funktion zu:

  • Konflikte angehen: Es ist essentiell für das Gelingen der Sturmphase, Konflikte offen anzusprechen und Verhaltensweisen für den Umgang mit Spannungen zu entwickeln. Nur so kann der Konflikt zur Chance werden und kreatives Potential entstehen.
  • Transparenz wagen: Trotz der auftretenden Herausforderungen müssen sich alle Teammitglieder auch weiterhin zur Transparenz verpflichten. Die Prozessleitung kann dies unterstützen, indem sie zur Offenheit motiviert, aber auch getroffene Entscheidungen klar dokumentiert.
  • Lösungswege fokussieren: In stürmischen Zeiten ist die Gefahr groß, sich in Schuldzuweisungen und Defizitdiskussionen zu verlieren. Die Führungskraft sollte deshalb zu einer fehlerfreundlichen Teamkultur ermutigen und anregen, aus Fehlern und Problemen Ideen für Lösungs- und Optimierungsansätze zu entwickeln.

3. Phase: Norming

Ist die anstrengende und unruhige Phase des Storming durchschritten, kann sich das Team in der Norming-Phase stärker auf die Implementierung neuer Prozesse konzentrieren. Die Unterschiedlichkeit der einzelnen Teammitglieder wird als Bereicherung empfunden, das Empowerment des Teams und der einzelnen Mitglieder schreitet voran. Der Prozessleitung kommt die Aufgabe zu, die positive Dynamik der Gruppe bestmöglich zu unterstützen.

  • Retrospektiven festigen: In der dritten Gruppenphase sollten Retrospektiven selbstverständlich implementiert sein. Sie spielen in dieser Phase eine besonders wichtige und qualitätsfestigende Rolle, da sie eine nachhaltige Entwicklung des Produktes garantieren.
  • Feedback geben: Die Zuordnung der Stärken und Kompetenzen ist in der dritten Phase weitestgehend abgeschlossen. Ein guter Zeitpunkt für die Führungskraft, um den Mitgliedern im Team ein ausführliches Feedback zu geben und Feedbacks zum Prozess einzuholen.
  • Positive Atmosphäre verstärken: In der dritten Phase erleben sich Teams als funktionierende und leistungsstarke Einheit. Das Vertrauen ineinander ist gefestigt, es besteht eine offene Kommunikationskultur. Den so entstandenen „Aufwind“ sollte auch die Führungskraft nutzen und die Gruppe durch teamstärkende Maßnahmen weiter festigen.

4. Phase: Performing

In der vierten und letzten Phase der Teamentwicklung nimmt sich das Team als gefestigt und hochproduktiv wahr. Zusammenarbeit und Kommunikation funktionieren gut, eine gemeinsame Identität und Vision der Teammitglieder ist entstanden. Führungskräften kommt in dieser Phase vor allem eine unterstützende Rolle zu.

  • Autonomie stärken: In der letzten Phase der Teamentwicklung braucht das Team nur noch wenig Anleitung durch die Führungskraft. Diese sollte sich daher mehr und mehr aus der steuernden Rolle zurückziehen und die Autonomie des Teams fördern.
  • Kontinuierliches Lernen ermöglichen: In der Perfoming-Phase ist das Team hochmotiviert und bestrebt, ständig noch besser zu werden. Führungskräfte sollten diesen Drang nutzen und die Motivation des Teams durch die Anpassung bzw. sanfte Steigerung der Anforderungen weiterhin lebendig halten.
  • Gefährdungen identifizieren: Auch ein leistungsstarkes, geeintes Team ist bzw. bleibt kein Selbstläufer. Die Führungskraft sollte deshalb mögliche Schwachstellen, aufkommende Innovationshemmnisse und ein potentielles neues Silodenken frühzeitig identifizieren und wirksame Präventionsmaßnahmen mit dem Team entwickeln.

Rolle rückwärts? Unbedingt! Anregungen aus der Praxis für die Praxis

Die vier Gruppenphasen nach Tuckman dürfen keinesfalls als linearer Prozess verstanden werden. Denn äußere Einflüsse im Unternehmen, aber auch innere Dynamiken, wie beispielsweise Personal- oder Führungswechsel, können die Teamstruktur neu durcheinanderwerfen. Einzelne oder mehrere Teamphasen werden von neuem durchlebt. Einige Beobachtungen aus der Praxis können Führungskräften helfen, souverän und gelassen zu interagieren und den auch weiterhin dynamisch zu gestalten:

  • Freiwilligkeit akzeptieren – Geduld zeigen: Agile Teams können von Führungskräften ermutigt, unterstützt und befähigt, aber niemals erzwungen werden. Die Freiwilligkeit der Teammitglieder bleibt eine wesentliche Grundvoraussetzung für die Gestaltung performender Arbeitsgruppen. Der Führungskraft verlangt dies nicht nur ein Höchstmaß an Geduld ab, sondern auch die Bereitschaft, die unterschiedlichen Dispositionen, Hintergründe und Wertvorstellungen der Teammitglieder ernst zu nehmen.
  • Erfahrung respektieren – behutsam motivieren: Eine besondere Rolle im Team nehmen Kolleg*innen ein, die schon über lange Jahre im Unternehmen sind. Ihnen wurde jahrelange immer wieder die Denkweise einer klassischen Firmenkultur vermittelt, so dass es ihnen besonders schwerfallen kann, Dinge neu und anders zu denken und zu tun. Dafür kann das gesamte Team von der Erfahrung und Problemlösungskompetenz langjähriger Kolleg*innen profitieren.
  • Die Intention manifestieren - das Ziel fokussieren: Bei lang andauernden Entwicklungsprozessen kann das Team Gefahr laufen, vor lauter Teamalltag die eigentliche Zielvorstellung aus dem Blick zu verlieren. Führungskräfte sollten deshalb immer wieder an das ursprüngliche Ziel erinnern sowie an die Bedeutung des Produktes für den Erfolg des Unternehmens. So bleibt das Team auf das Ziel fokussiert und offen für weitere notwendige Anpassungen in der Teamstruktur.
  • Phasen benennen – stärkende Strukturen schaffen: Die Teamentwicklung gleicht einer Lernkurve. So steigt der Lernerfolg des Teams mit jeder durchlebten Phase. Gleichzeitig gehören Rückschritte zur Tagesordnung und bewirken nicht selten den größten Lernerfolg. Führungskräfte sollten jedoch stets klar benennen, in welcher Gruppenphase sich das Team befindet. Zudem sollte das Management einbezogen werden und Maßnahmen wie beispielsweise Versetzungen, Kündigungen oder Budgetkürzungen gemeinsam besprochen werden. Irritationen können so minimiert und die Sicherheit des Teams gefestigt werden.

Über Sven

Noch mehr Artikel