Strategie 1

Strategischer Optionsraum statt einengender Fessel – Strategien in agilen Prozessen von Sven Schneider

Kein Produkt ohne Strategie. Daher gehört die Orientierung an strategischen Zielen auch zum Alltag agiler Prozesse. Allerdings sind Strategien in der Agilität anders zu interpretieren, als dies in vielen Projekten noch oft getan wird, wie die Geschichte der „Holzfäller von Sturkopfingen“ verdeutlicht.

 

Die Holzfäller von Sturkopfingen und der Brückenbau

Im wunderschönen Tal Sturkopfingen lebte ein Trupp fleißiger Holzfäller. Sie waren stark, geschickt und klug. Niemand im ganzen Land fällte Bäume so schnell wie sie. Doch etwas ärgerte die tapferen Männer. Im Wald jenseits des großen Flusses wuchsen Bäume, die noch mächtiger und höher waren als die Bäume im Wald diesseits des Flusses. Wie viel Geld sich mit diesen riesigen Bäumen wohl verdienen ließe? Also fassten die Anführer der Holzfäller den Entschluss, eine mächtige Holzbrücke über den großen Fluss zu bauen. Einige erfahrene Holzfäller hatten allerdings Zweifel und meinten, das Projekt würde zu viele Kräfte kosten, die dann beim Fällen der Bäume fehlen würden. Doch die Anführer ließen sich nicht beirren. Sie stellten einen Trupp besonders geschickter Holzarbeiter zusammen und beauftragten diese mit dem Bau der Brücke. Die Männer machten sich eifrig ans Werk. Schnell bemerkten sie aber, dass es erheblich mehr Zeit kosten würde, die Fundamente der Brücke gegen die Fluten des Flusses zu schützen. Sie warnten die Anführer vor dem größeren Aufwand. Doch die Anführer ließen sich nicht beirren. Sie beauftragten weitere Männer mit dem Bau der Brücke. Eines Tages passierte ein schreckliches Unglück: Beim Versuch, die Fundamente im Fluss zu verankern, ertranken zwei Männer in den reißenden Fluten. Doch die Anführer ließen sich nicht beirren. Sie schickten neue Männer ins Team und befahlen, noch härter am Bau der Brücke zu arbeiten.

Als endlich nach vielen Mühen ein Teil der Brücke im Fluss stand, kam die Katastrophe: Bei einem heftigen Unwetter riss ein Hochwasser die Pfeiler der Brücke ein. Etliche Männer und fast alles an Material wurden von den Fluten mitgerissen. Doch die Anführer ließen sich nicht beirren. Sie forderten die Hälfte aller Holzfäller auf, vom Bäumefällen abzulassen und den Bau der Brücke neu zu starten, denn sie wollten unbedingt ans andere Ufer. Eines Tages kam ein weiser Mann ins Tal von Sturkopfingen. Er erzählte von sagenumwobenen Brücken mit Seilen, die fast schwerelos wirkten und dennoch große Lasten tragen könnten. Doch die Anführer ließen sich nicht beirren. „In unserem Tal haben wir seit eh und je mit robustem Holz gebaut“, knurrten sie und jagten den Weisen fort. Ärgerlich trieben sie den Bau der Brücke weiter voran, bis der Trupp der tapferen Männer nach vielen Monaten und etlichen weiteren Missgeschicken das andere Ufer erreichte. Stolz marschierten die Anführer über die schmale Brücke. Doch als sie endlich am anderen Ufer ankamen und die Gegend erkundeten, mussten sie feststellen, dass viele der prächtigen Bäume bereits gefällt waren. Sie fanden einige der fremden Holzfäller und fragten erstaunt: „Wie seid ihr über den großen Fluss hierhergekommen?“. Die Männer antworteten: „Erinnert ihr euch an das große Unwetter und das Hochwasser? Dabei hat ein Erdrutsch flussabwärts, wo die Strömung langsamer und der Fluss breiter ist, etliche große Felsbrocken in den Fluss gespült. Wir haben die Chance sofort genutzt, denn wir mussten die Steine nur mit etwas Geschick und einigen Planken verbinden. So haben wir im Handumdrehen eine robuste und stabile Brücke gebaut, die wir sogar mit unseren Karren befahren können.“

 

Strategie 2

 

 

Agil wie ein Routenplaner – Strategien in agilen Prozessen

Auch wenn die Strategie keine Kennzahl im klassischen Sinn ist, so ist die Orientierung an strategischen Vorgaben unabdingbar für die Wirtschaftlichkeit von Projekten. Schließlich definiert die Strategie die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und somit auch, wie viel Energie für ein Projekt eingesetzt werden soll. Doch falsch verstandenes strategisches Denken kann auch zur Fessel werden, wenn die Strategie von der richtungsweisenden Leitplanke zum unantastbaren Selbstzweck wird. Müssen strategische Ziele wie bei den „Holzfällern von Sturkopfingen“ um jeden Preis erreicht werden, ganz gleich, wie sehr sich die Rahmenbedingungen ändern, kann dies das Team oder sogar das gesamte Unternehmen in den Abgrund reißen.

In agilen Prozessen nehmen Strategien einen anderen Stellenwert ein. Ähnlich wie ein Routenplaner ein festes Ziel anvisiert, je nach Verkehrslage die Routenführung aber immer wieder ändert, so definiert auch die Strategie in agilen Prozessen eine Zielvorgabe, für deren Annäherung jedoch genügend Freiraum besteht, um auf auftretende Veränderungen reagieren zu können. Oder im Bild der „Holzfäller von Sturkopfingen“ gesprochen:
In der Agilität gibt die Strategie das Ziel vor, das andere Ufer zu erreichen, um dort Bäume fällen zu können. Ob dies jedoch mit einer Holzbrücke, mit einer Seilbrücke oder mit der durch den Sturm überhaupt erst ermöglichten Holz-Stein-Brücke geschieht, ist gleich. Das Team ist bei der Wahl der Mittel also deutlich freier. Strenge Vorgaben, wie der Bau der Brücke aus Holz oder der Bau der Brücke von Ort A exakt nach Ort B, entfallen.

 

Von der Strategie zum strategischen Denken

Wer mit Strategien sicher zum Ziel kommen will, braucht die passende strategische Denkweise, die veränderte Rahmenbedingungen akzeptiert und auch die Option des Scheiterns nicht ausschließt. Nur so kann aus einer unverrückbaren Strategie ein strategischer Kompass werden:

  • Angemessene Antworten auf VUKA finden: Mit dem Begriff VUKA wird in der Agilität die rasante Entwicklung der Arbeitswelt umschrieben, die ständig volatiler, unsicherer, komplexer und ambivalenter wird. Diese Veränderungen verdeutlichen die Notwendigkeit, auch strategische Ziele nach jedem Meilenstein einer Prüfung zu unterziehen, um angemessen auf veränderte Realitäten, wie beispielsweise neue technische Möglichkeiten, neue oder wegbrechende Märkte oder neue Konkurrenten, zu reagieren und die strategische Ausrichtung gegebenenfalls anzupassen.
  • Erreichbare Schritte statt großer Sprünge planen: Die Versuchung mag groß sein, strategische Ziele als große Sprünge zu verstehen, also als Ziele, die um jeden Preis erreicht werden müssen, um das Unternehmen nach vorne zu bringen. Agile Prozesse gehen jedoch einen anderen Weg. Sie orientieren sich an den Ideen der großen Ziele, prüfen aber Schritt für Schritt die nächstbeste Option. So wird das große Ziel in kleine Zielschritte übersetzt, deren Realisierbarkeit leichter überprüft werden kann.
  • Tote Pferde erkennen: Je stärker man sich auf das Erreichen eines gesetzten Strategiezieles fixiert, desto größer ist die Gefahr, in die Sunk Cost Fallacy zu geraten. Insbesondere große Projekte mit langer Laufzeit sind gefährdet, zur echten Kostenfalle zu werden, wenn strategische Ziele nicht mehr hinterfragt werden, sondern um jeden Preis erreicht werden sollen. In wirklich erfolgreichen Projekten sollte das Team dagegen genügend strategische Distanz besitzen, um zu erkennen, dass es ein bereits totes Pferd reitet, das eigentliche Ziel also unerreichbar geworden ist. Es ist nicht peinlich, von einem gesetzten Ziel abweichen zu müssen, aber es ist peinlich, es aus Stolz weiterzuverfolgen, obwohl es unerreichbar geworden ist.

 

Plädoyer für einen neuen Begriff: strategischer Optionsraum

Da der Begriff der Strategie immer in der Gefahr steht, im Sinn exakter strategischer Vorgaben zu eng verstanden zu werden, scheint es zugunsten einer präzisen Sprache ratsam, einen Wandel zu vollziehen. Besonders in agilen Projekten bietet sich dazu der Begriff des strategischen Optionsraumes an, der die klare Orientierung auf ein strategisches Ziel hin impliziert, bei der Zielerreichung aber einen entsprechenden kreativen Gestaltungs- und Optionsraum indiziert.

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