20200903 Ux Texter 1

Schluss mit „lorem ipsum“ – UX-Writing als Chance in der Produktentwicklung von Andreas Keßler

300 Millionen Dollar Einnahmenplus durch einen umbenannten Button. Was wie ein schlechter Marketing-Gag klingt, beschreibt die Wirklichkeit eines amerikanischen E-Commerce-Unternehmens. So beobachtete der Texter Jared M. Spool bei Zielgruppentests, dass die Schaltfläche „Registrieren“ ein enormes Hindernis im Bestellprozess der Kunden* darstellte, da Neukunden sich durch die Registrierung zu einer Bindung an das Unternehmen genötigt sahen und Stammkunden frustriert nach alten Zugangsdaten suchten. Die Folge: Viele Kunden ließen ihre bereits gut gefüllten Einkaufswägen zurück und beendeten den Bestellvorgang ohne Einkauf.

Spool löste das Problem durch einen ebenso einfachen wie effektiven Trick: Er benannte die unbeliebte Schaltfläche kurzerhand in einen simplen „Weiter“-Button um und ließ zusätzlich die Meldung einblenden, dass ein Kundenkonto gerne nach dem Bestellvorgang erstellt werden könne. Das ließ viele Widerstände bröckeln. Die Kundenzahl stieg um 45 %.

Auch wenn nicht jede optimierte Schaltfläche einen Zusatzgewinn von 300 Millionen Dollar bedeutet, so verdeutlicht das Beispiel von Jared M. Spool dennoch die Bedeutung von passenden Texten in der Produktentwicklung. Doch nach wie vor sind UX-Texter als spezialisierte Textprofis in Entwicklungsteams nur selten zu finden. Eine verpasste Chance, wie unser Blogbeitrag zeigt.

 

UX-Writing­­ – Eine ungenutzte Chance?

Häufig kommen Texter in Entwicklungsteams erst zum Einsatz, wenn dem fast fertigen Produkt der letzte Schliff verliehen werden soll. Im Entwicklungsprozess liegt der Schwerpunkt dagegen vor allem auf der Produktarchitektur und dem Produktdesign. Dass dafür auch passgenaue Texte eine zentrale Rolle spielen, wird oft vernachlässigt. Doch die Arbeit mit professionellen UX-Textern bietet enorme Chancen:

  • Texte werden mitgetestet: Zur Optimierung der User Experience spielen passgenaue Texte eine ebenso wichtige Rolle wie ein intuitives Design. Wird bei der Entwicklung von Prototypen auch der verwendete Text mitberücksichtigt, so können die Textelemente des Produktes Schritt für Schritt verbessert werden.
  • Testergebnisse werden realistischer: Werden Prototypen nicht einfach mit „lorem ipsum“ aufgefüllt, sondern mit echten, zielführenden Inhalten, so lässt dies bessere Rückschlüsse auf das Nutzerverhalten zu, z. B. im Blick auf die Lese- und Verweildauer.
  • Betriebsblindheit wird vorgebeugt: In jedem Unternehmen gibt es Begrifflichkeiten, die intern zwar „en vogue“ sind, extern aber für Irritationen sorgen können. Um missverständlichen Formulierungen vorzubeugen, sollte den Textelementen neuer Produkte bereits im Entwicklungsprozess ein hohes Maß an Aufmerksamkeit zukommen.
  • Styleguides werden textlich erweitert: Zu einem guten Styleguide gehören neben grafischen Designvorgaben auch textliche Merkmale. Denn es gilt, das Corporate Design auch im Sinn einer Corporate Language zu ergänzen. Wirken UX-Texter im Entwicklungsprozess mit, so kann der (Living) Styleguide von Anfang an auch textlich mitwachsen.
  • Entwickler bleiben Entwickler: Niemand käme auf die Idee, einen Texter um die Programmierung eines Programmcodes zu bitten. Umgekehrt wird jedoch von Produktentwicklern immer wieder erwartet, dass diese den passenden Text einfach mitliefern. Dies wird jedoch weder den Skills der Entwickler noch den Textelementen im Produkt gerecht. Die Lösung: UX-Texter, die sich als Teil des Entwicklungsteams ganz auf die Gestaltung des Textes fokussieren können.

 

Textprofis im Entwicklungsteam – Diese Stärken brauchen UX-Texter

Wie die IT-Entwicklungsarbeit, so ist auch die Textentwicklung gutes und ehrliches Handwerk, das einer entsprechenden Expertise bedarf.

Denn gerade bei der Produktentwicklung kommt Texten eine besondere Bedeutung zu.

Die Zauberformel für gute UX-Texte

Gute Texte sind in Produkten für die Nutzer fast „unsichtbar“. Dazu hilft eine einfache Faustformel: Liefere so viel Text wie nötig, damit keine Informationen vermisst werden, aber so wenig Text wie möglich, damit der Text ein Hilfsmittel bleibt und nicht zum Störfaktor wird.

Anders als bei klassischen Content- und Werbetexten, dienen UX-Texte nicht dazu, mit raffinierten Slogans zu werben. Vielmehr sollen sie die Anwender durch sog. Microcopies, also durch möglichst natürliche Textschnipsel, bei der Navigation durch das Produkt unterstützen. Damit dies gelingt, brauchen UX-Texter besondere Fähigkeiten:

 

  • Empathie und „Menschzentrierung“: Selbstredend brauchen auch klassische Content Writer die Fähigkeit, sich auf die Bedürfnisse ihrer potenziellen Kunden einzulassen, um empathische und ansprechende Texte zu schreiben. UX-Writer benötigen diese Kompetenz aber im Besonderen, wenn es darum geht, den Weg der Nutzer durch das Produkt zu antizipieren und zu überlegen, an welcher Stelle im Produkt welche beschreibenden, erklärenden oder motivierenden Textelemente platziert werden sollten.
  • Strukturelles Denken: Als Teil des Entwicklungsteams sind UX-Texter von Anfang an in den Entwicklungsprozess eingebunden. Dies erfordert von ihnen die Fähigkeit, nicht nur gute Texte zu schreiben, sondern auch mitzudenken, wann und wo es zur besseren Navigation welche Texte braucht.
  • Technische Bescheidenheit: UX-Texter haben ihren Job immer dann besonders gut gemacht, wenn ihre Texte nicht auffallen. Beim UX-Writing geht es daher nicht darum, möglichst tief in die kreative Trickkiste zu greifen, sondern pragmatisch und bedarfsgerecht gute Textelemente zu formulieren.

UX-Texter, UX-Writer oder doch UX-Copywriter? – Ein Hinweis zum Schluss

Obwohl das UX-Writing häufig noch unbekannt ist, lassen sich vielfältige Bezeichnungen für UX-Writing finden, die für erhebliche Irritationen sorgen können. Grundsätzlich bezeichnen die Begriffe „UX-Texter“, „UX-Writer“ und „UX-Copywriter“ tatsächlich immer die gleiche Tätigkeit. Allerdings haben sich im deutschen Sprachraum vor allem die Begriffe „UX-Texter“ und „UX-Writing“ etabliert, während in den USA meistens von „UX-Writern“ gesprochen wird. In Deutschland missverständlich ist die Rede vom UX-Texting, da der Begriff „Texting“ ursprünglich aus dem SMS-Versand stammt.

 

* Um den Lesefluss im Text zu verbessern, haben wir in diesem Blogbeitrag nur die männliche Sprachform verwendet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten aber selbstverständlich für alle Geschlechter.

Über Andreas

Noch mehr Artikel